Das Konzept der Persönlichkeitsstörungen ist im Praxisfeld Erziehung/Bildung in der Regel völlig unbekannt. Dies ist, wie
eingangs bereits erwähnt, kein Zufall, sondern bildungspolitisch bedingt. Pädagogen durchlaufen eine andere Ausbildung als
Psychologen. Meines Erachtens stellt dies heutzutage ein – von uns Fachkräften unbemerktes – Manko dar.
Denn: Der Anteil an „schwierigen“ Heranwachsenden liegt im Praxisfeld Erziehung/Bildung im Durchschnitt auf einem Rekordniveau,
bei etwa 15 bis 20 Prozent (ROTH 2010; BAUER 2007c). Die Betreffenden offenbaren in der Regel ein bis zwei psychische Störungen, was häufig zu verdeckten und offenen Konflikten mit
Gleichaltrigen und Erziehern führt. Und wir stehen dann „da“, pädagogisch ausgebildet!
Die Krux liegt in Folgendem: Jugendliche, die einen schwierigen Persönlichkeitsstil oder eben eine Persönlichkeitsstörung nach
psychiatrischen Kriterien offenbaren, fordern uns regelmäßig mit einer schwer handhabbaren Kommunikation heraus, deren
innerpsychische Vielschichtigkeit wir aufgrund unserer Ausbildung gar nicht wahrnehmen und begreifen können(!).
Und so gilt eben wie selbstverständlich das Motto „the show must go on“. D.h., der Praxisalltag muss trotz etwaiger „Störfeuer“
aufgrund von psychischen Störungen stets funktionieren. Das erwähnte Motto mag zwar im Allgemeinen praktizierbar sein, jedoch
nicht notwendigerweise im Speziellen.
Ich kenne einige Kolleginnen und Kollegen, die nach eigenen Worten in manchen Klassen/Gruppen die Zeit möglichst „unbeschadet
rumkriegen“ wollen. Manche Teenager mischen Pädagogenteams regelrecht auf, stellen den Fachkräften im Alltag Beziehungsfallen,
drohen ihnen oder machen sonst wie jegliche Zusammenarbeit unmöglich.
Pädagogische Fachkräfte können sehr viel von psychotherapeutischen
Arbeitsmodellen profitieren
Es ist aus meiner Sicht sehr bedenklich, dass es für Sozialpädagogen in Hinsicht auf das Thema Persönlichkeitsstile/-störungen
keinerlei Aufklärungs- und Fortbildungsangebote gibt. Aber kann man überhaupt darauf hoffen, dass Psychologen bzw.
Psychotherapeuten didaktisch-methodische Tipps zum Umgang mit entsprechend psychisch auffälligen Teenagern veröffentlichen?
Klare Antwort: Nein. Den Professionellen fehlt ja in der Regel die Einsicht in unseren Praxisalltag. Daher müssen die Inhalte
des Konzepts der Persönlichkeitsstörungen von uns Pädagogen dieser Tage notwendigerweise assimiliert werden. Es sollte uns
zwecks professioneller Ausübung unserer Berufsrolle weitgehend präsent sein. Sicherlich ist die Diagnose von schwierigen
Persönlichkeitsstilen oder gar Persönlichkeitsstörungen im Praxisfeld Erziehung/Bildung hauptsächlich Sache der Psychologen.
Nun kann sich diese Berufsgruppe wohl sicherlich nicht darüber beklagen, dass sie zu wenig zu tun hätte. Und so kommt es, dass
es seine Zeit dauert, bis Termine wahrgenommen werden können. Bis dahin – ich wohne in Worms – ist viel Wasser den Rhein hinuntergelaufen,
lapidar gesagt. Fazit: Wir Pädagogen müssen uns mit „schwierigen“, auch psychisch auffälligen Teenagern auseinandersetzen, ob wir
wollen oder nicht. Ziel der Trilogie Persönlichkeitsstörungen in der Schule, Schulsozialarbeit und Jugendhilfe verstehen ist es,
einen fundierten Zugang zu „schwierigen“ Heranwachsenden zu bekommen, ihr Denken, Fühlen und Verhalten in brisanten Situationen
vielschichtig zu verstehen.
Begriff Persönlichkeitsstörung
Der Begriff Persönlichkeitsstörung klingt für Laien in der Regel abschreckend. Schnell kommt man zu der Überzeugung, dass
Individuen, die diese Diagnose gestellt bekommen, „hoch pathologisch“, „krank“, „unberechenbar“ bzw. „gestört“ seien.
Diese Meinung ist aus heutiger Sicht grundfalsch. Bei Persönlichkeitsstörungen handelt es sich nicht um Störungen der
Gesamtpersönlichkeit (FIEDLER 2007). Persönlichkeitsstörungen werden als Beziehungsstörungen aufgefasst – sie sind im Kern
Störungen der Interaktion, der Beziehungsgestaltung (SACHSE 2006). Das herausfordernde Verhalten – und das ist ein sehr
wichtiger Aspekt – im Alltag basiert lediglich auf irrationalen Annahmen (Schemata) über sich selbst (etwa: „Ich bin nicht
wichtig!“) und andere (z.B.: „Meine Mitmenschen finden mich uninteressant!“). Solche negativen Schemata entstehen in der
Kindheit infolge verschiedener Sozialisationserfahrungen. Meistens waren die Betreffenden darauf angewiesen, Denk- und
Verhaltensweisen auszubilden, die der Anpassung an bestimmte soziale Gegebenheiten dienten. In der Kindheit war eine typische
Kombination von soliden Reaktionen demnach sinnvoll; heute ist sie aber nicht mehr up to date. – Trägt man dem bisher
Vorgetragenen Rechnung, lassen sich folgende Schlussfolgerungen zu den im vorliegenden Rahmen thematisierten
Persönlichkeitsstilen/-störungen aufstellen:
- Antisoziale/dissoziale Heranwachsende schädigen andere Gruppenmitglieder bzw. ihre Betreuungspersonen, um frühere
Opfererlebnisse zu kompensieren. Sie schlüpfen unbewusst in die Täterrolle und behandeln ihr Gegenüber so, wie sie
selbst häufig behandelt wurden (vgl. Kap. 3.1).
- Narzisstisch strukturierte Teenager verwirklichen deshalb ein so extremes Streben nach Anerkennung, weil sie in der
Kindheit zu wenig Aufmerksamkeit bekommen haben (natürlich gibt es auch noch andere Ursachen, siehe Kapitel 3.2).
Hinter der Selbstdarstellung verbergen sich diverse typische Selbst- („Ich bin ein Loser!/Ich bin der Hit!“) und
Fremdschemata („Die anderen finden mich doof!/Die anderen halten mich für den Big Boss!“).
- Heranwachsende mit Borderline-Struktur nehmen ihre Umwelt und sich selbst häufig in Extremen wahr, mal sehr „weiß“,
mal sehr „schwarz“). Der Erzieher wird unter Umständen ähnlich gespalten wahrgenommen. Einmal sehr positiv („Sie sind
der beste Betreuer, den ich je hatte!“), ein anderes Mal sehr negativ („Sie sind das Allerletzte!“). Dahinter stecken
wiederum meistens ambivalente Sozialisationserfahrungen.
- Histrionischen Teenagern geht es vor allem um die Erfüllung der Bedürfnisse Wichtigkeit und Solidarität. Grundlage
dieses weit überzogenen Strebens sind wieder widersprüchliche Selbst- („Ich bin unwichtig!/Ich bin der Tollste!“)
und Fremdschemata („Die anderen finden mich uninteressant!/Die anderen halten mich für die Nr. 1!).
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