Die sozialpsychologische Forschung hat in zahllosen Experimenten zum Selbstkonzept in den letzten Jahren
sehr wichtige Befunde erbracht, die in unserem vorliegenden Rahmen nicht außen vor gelassen werden können
(zusammenfassend MYERS 2005; WERTH & MAYER 2008). – Demnach neigen die meisten Menschen dazu, die eigene
Persönlichkeit, die eigenen Kompetenzen und Potenziale usw. selbstwertdienlich leicht zu überschätzen (WILSON 2007).
Transferiert man diese Erkenntnis auf Personen, die in sozialberuflichen Praxisfeldern arbeiten, dürften bei
folgenden beispielhaften Fragestellungen ähnliche Tendenzen hinsichtlich des (beruflichen) Selbstbildes herauskommen:
» Halten Sie sich generell für einen professionellen Pädagogen?
» Denken Sie, dass Sie die Zu-Erziehenden im Allgemeinen ausreichend fördern und bilden?
» Hatten Sie in Ihrer Berufszeit bisher mehr pädagogische Erfolge als Misserfolg?
» Fühlen Sie sich Ihren Kolleginnen und Kollegen gegenüber leicht überlegen? usw.
Wir können davon ausgehen, dass die natürliche Neigung, sich selbst in einem „guten Licht zu sehen“,
auch bei solchen Angelegenheiten zum Tragen kommt.
Diese aus psychologischer Sicht sinnvolle, aber dennoch leichte narzisstische Tendenz zur Schönfärberei
sorgt erwiesenermaßen für ein mehr oder weniger positiv gefärbtes Selbstbewusstsein. Nachweislich hilft
ein solches Selbstkonzept („Ich bin okay!“) bei der Bewältigung des Daseins bzw. Arbeitsalltags (GRAWE 1998).
Von dieser offensichtlich angeborenen Motivation ist auch aller Wahrscheinlichkeit nach die Wahrnehmung von
Personen betroffen, die im Alltag miteinander in Konflikte geraten. Wenn der eigene Selbstwert durch negative
Kritik, Diskreditierung usw. in Gefahr gerät, scheint eine solche Situation die eben ausgeführte angeborene
Selbstüberschätzung zu verstärken. D.h., in der Regel kommen in vielen solcher Fälle beide Parteien intuitiv
und auch besonders nach „reiflicher Überlegung“ zu dem Schluss, dass der andere für das jeweilige Problem
verantwortlich ist (ROSENBERG 2001; SCHULZ VON THUN 2007).
Diese „nach außen verlagerte Ursachenzuschreibung“ wird in der Psychologie „externale Kausalattribuierung“
genannt (vgl. DAMM & WERNER 2011). Erfahrungsgemäß spielt dieses irrationale menschliche, allzu menschliche
Phänomen auch in pädagogischen Praxisfeldern eine große Rolle, etwa wenn Spannungen zwischen Kollegen bestehen.
Und selbstverständlich ist auch das Verhältnis zwischen Erzieher und Teenager davon betroffen. Wenn die Beziehung
einigermaßen „stimmt“, sind die bis hierher thematisierten Störungen entsprechend nicht existent. Die Beschäftigung
mit dem Konzept der Persönlichkeitsstörungen ist vor dem Hintergrund dieser Phänomene nun extrem fruchtbar. Es
klärt über Persönlichkeitsstile/-störungen auf, die typische Konflikte provozieren. Ohne die Kenntnis des
Konzepts werden Pädagogen entsprechend immer wieder in dieselben Konflikte verwickelt, die auf bestimmten
charakterlichen Auffälligkeiten basieren – und eine Problemlösung wird deshalb massiv erschwert, weil die Beteiligten
keinen Zugang zu ihrer Charakterstruktur haben, wohl aber selbstwertdienliche Mechanismen aufweisen. Selbst-
und Fremdwahrnehmung klaffen wohl in den meisten Fällen naturgemäß auseinander (siehe PS 1, Kapitel 1). Erfahrungsgemäß
haben selbst die problematischsten Kollegen und Jugendlichen ein positives Selbstbild.
Eines steht fest: Wir Pädagogen bringen unsere Biografie mitsamt den zahlreichen charakterlichen Ecken und Kanten
mit in den Praxisalltag – wie unsere Teenager auch. Unter Umständen prallen völlig unterschiedliche Welten aufeinander.
Das Konzept der Persönlichkeitsstörungen fördert die sich auftuende Fachkompetenz diesbezüglich.
In der folgenden Tabelle sind zur Einführung einige Beispiele angeführt:
Tabelle 1: Persönlichkeitsstile, Motivation und Auswirkungen
Persönlichkeits- stil |
Wahrnehmung/ Motivation |
Betroffene Fachkräfte… |
Betroffene Jugendliche… |
Narzisstisch (extrem selbst-zentriert) |
Das Streben nach Anerkennung steht im Vordergrund, ebenfalls ein stark ausgeprägtes Konkurrenzdenken |
… neigen im Alltag zur Selbstdarstellung, haben mehr sich selbst im Blick als die Zu-Erziehenden |
… fordern regelmäßig die Fachkraft mithilfe von effizienten Manipulationstechniken heraus, konkurrieren mit Gleichaltrigen; sind beratungsresitent |
Zwanghaft |
Extreme Neigung zum Rationalisieren, Diskutieren und zur Selbst- und Fremdkontrolle |
… legen viel zu viel Wert auf Disziplin, Ordnung, Struktur – Emotionen, Fantasie, Kreativität werden gleichzeitig gering geschätzt; der Ausdruck von Gefühlen aufseiten der Heranwachsenden wird rational bekämpft |
… können sich ausschließlich auf einen strukturierten Tagesablauf einlassen, brauchen viel Anleitung und klare Vorgaben und Aufgaben; kritisieren Pädagogen, die diese Bedürfnisse nicht erfüllen |
Dependent-Aktiv |
Ausgeprägte Helfer-Mentalität; Personen, die Probleme haben, geraten in den Fokus |
… können keine professionelle Distanz wahren, sind zu nah am Teenager; Probleme werden vorwiegend gewälzt und mit nach Hause genommen; zu viel Empathie; Gefahr des Burn-out |
… sind extrem hilfsbereit, zeigen viel Empathie; haben überwiegend ein „hilfsbedürftiges“ soziales Umfeld |
Passiv-aggressiv |
Ablehnung von Autoritäten und Strukturen |
… wirken zunächst auf die Jugendlichen chaotisch und unprofessionell; praktizieren unkonventionelle Methoden |
… provozieren die pädagogische Fachkraft auf vielen Kommunikationskanälen; sabotieren den Tagesablauf, weil sie sich schnell eingeschränkt oder kontrolliert fühlen |
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