Allgemeines
Gewalt – besonders unter Jugendlichen – scheint in den letzten Jahren eine neue Qualität angenommen zu haben. Nunmehr werden immer häufiger Jugendliche, aber auch Erwachsene, die bereits am Boden liegen, weiterhin verletzt, bis sie nicht mehr aufstehen (SCHMITT-KILLIAN 2010). Zwar bezieht sich das Phänomen meistens auf junge männliche Jugendliche, doch zunehmend holen die Mädchen „auf“.
Ebenfalls ist erkennbar, dass sich Jugendgewalt immer öfter auch gegen Erwachsene richtet. Die populären Fälle, die in den Medien große Beachtung finden (etwa der „Fall Brunner“ in München), mögen in dieser Hinsicht als Beispiele gelten.
Zwar sank die Zahl der registrierten Straftaten von Jugendlichen in Deutschland nach der Polizeilichen Kriminalstatistik 2009. Demnach wurden „nur“ noch 7,6 Prozent aller Heranwachsenden polizeilich unter der Rubrik „tatverdächtig“ registriert (265.771).
Delikte, die mit Körperverletzung zu tun haben, stiegen zahlenmäßig hingegen an, und das besonders seit dem Jahr 2007, in dem ein Anstieg von 6,3 Prozent bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung verzeichnet wurde (SCHMITT-KILLIAN 2010, 37). Die Körperverletzungen haben mit circa 25 Prozent einen recht hohen Deliktsanteil in Hinsicht auf das breite Straftatenspektrum.
Auf der anderen Seite ist bei den Gewaltdelikten (Körperverletzung, Sachbeschädigung usw.) tendenziell „mehr Brutalität“ zu verzeichnen als früher (HEISIG 2010).
Erwähnt werden muss noch, dass die Aussagekraft der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), deren aktuellen Ergebnisse oben skizziert wurden, begrenzt ist. Die Daten beinhalten lediglich Taten, die angezeigt wurden. Viele Gewaltdelikte bleiben erwiesermaßen im Verborgenen. Außerdem spielt die Variable „Anzeigebereitschaft in der Bevölkerung“ eine große Rolle, sie ändert sich in Abhängigkeit zu den gesellschaftlichen Veränderungen immer wieder.
Trotz allem: Lehrerinnen und Lehrer erleben so gut wie täglich irgendeine Facette von Gewalt. Die „Spanne“ reicht von Beleidigungen, Lästereien, Mobbing bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen beziehungsweise schweren Misshandlungen.
Und es muss bedacht werden: Die Gewaltventile haben auch durch die Neuen Medien an Vielfalt gewonnen. Begriffe wie Cybermobbing (Schikanieren mittels Handy oder im Internet), Cyberbullying (bei Kindern) und Happy-Slapping (Gewaltdelikte auf Handy aufnehmen und weitersenden) waren bis vor wenigen Jahren noch völlig unbekannt. Die Zeiten haben sich geändert.
Im Folgenden wird es schwerpunktmäßig um die „traditionelle“ Gewalt und Gewaltbereitschaft gehen, sprich: um aggressives Verhalten, das darauf abzielt, andere psychisch und physisch zu schädigen.
Die sogenannten Schlägertypen stammen überwiegend aus sozial schwachen Schichten (SCHMITT-KILLIAN 2010). Sie sind ihren Opfern in der Regel körperlich überlegen und machen auch auf so manchen Pädagogen einen entsprechend „robusten“ Ersteindruck. Der Umgang mit solchen Schülerinnen und Schülern ist in der Regel nicht einfach, besonders wenn man von so mancher Straftat weiß.
Sicherlich macht diese Klientel so mancher Lehrkraft zu schaffen, besonders wenn man sich in Machtkämpfe verwickeln lässt (siehe auch Kapitel 5.8). Wenn man diese Konflikte auch noch mit „nach Hause“ nimmt, können nach und nach alle Voraussetzungen entstehen, die im sogenannten Burn-out gipfeln.
Das Problem „gewaltbereite Schüler“ gibt es natürlich schon länger. Und die gesellschaftlichen Institutionen kümmern sich seit Jahren um das Phänomen. – Mehrfachtäter haben daher meistens Anti-Aggressions-Trainings hinter sich. Jene entsprechen überwiegend der Theorie der sogenannten Konfrontativen Pädagogik (KILB, WEIDNER & GALL 2009). In solchen Trainings werden die Betreffenden zwar als Person wertgeschätzt, aber in Hinsicht auf ihr „abweichendes Verhalten“ konfrontiert („80 Prozent einfühlsame, tolerante Beziehungsgestaltung, 20 Prozent Konfrontation“). Auch schemapädagogische Methoden sind hier einsetzbar.
Deutung des Eingangsfalls
Serda (16) und Volkan (17) besuchen die „schlimmste BVJ-Klasse der Schule“, so zumindest die Einschätzung einer überforderten Kollegin. Die beiden Türken fallen insbesondere dadurch auf, dass sie sehr viel negative Aufmerksamkeit auf sich ziehen (eventuell Hinweis auf das Schema Anspruchshaltung/Grandiosität). Unterricht wird dadurch so gut wie unmöglich gemacht. Disziplinarmaßnahmen waren bisher mehr oder weniger erfolglos.
Sie geben sich übertrieben „cool“, versuchen immer mal wieder, die Lehrkräfte, die in dieser Klasse eingesetzt sind, aus dem Konzept zu bringen („Hey, Frau X, wissen Sie, was Gang bang ist?“) (Test „Lässt Du Dich von mir dissen“, Modus Selbsterhöher, Schikanierer- und Angreifer-Modus) Oder aber sie spielen, wenn es ihnen zu langweilig wird, Musik laut auf ihren Handys ab (Stil: Aggro-Berlin) (Image „Wir sind harte Jungs“, Modus Selbsterhöher, eventuell Appell „Interessiere Dich für unsere Musik“)
Auch bei Lehrer X versuchen sie „ihr Glück“. In den ersten Stunden des Schuljahres quatschen sie „heldenhaft“ über Schlägereien, die sie in ihrer Freizeit provozieren (Image „Wir sind harte Jungs“, Modus Selbsterhöher, eventuell Appell „Interessiere Dich bitte für uns“). „Hey, Herr X, wissen Sie, wie viel Geld es kostet, wenn man einem Anderen vier Zähne ausschlägt?“ (Test „Können wir Dich dissen“) Er antwortet ohne ersichtliche Regung: „Nee, da kenne ich mich nicht aus.“ („charmante“ Ablehnung des Tests)
Noch in der ersten Stunde wurden Ethik-Themen für das laufende Schuljahr gesucht und gefunden. Auch die Themen „Gewalt“, „Mobbing“ und „Liebe“ wurden ausgewählt – was die beiden Türken sehr erfreute (komplementäre Beziehungsgestaltung).
Der Pädagoge fragt die kommenden Wochen immer mal wieder nach, was sich „so am Wochenende“ im Rückblick bei den beiden getan hat (komplementäre Beziehungsgestaltung). Serda meint irgendwann, sie hätten im TV eine Freefight-Kampfsportveranstaltung geschaut, bei der „harte Jungs gegeneinander angetreten sind“ (Modus Glückliches Kind). Der Lehrer erkundigt sich nach den Regeln, Gepflogenheiten und nach den „besten Kämpfern“ in dieser Sportart (komplementäre Beziehungsgestaltung). Die beiden erzählen begeistert (Modus Glückliches Kind). In dieser Stunde arbeiten die beiden zur Abwechslung mündlich mit und unterlassen ihre „Spielchen“ (Folge der komplementären Beziehungsgestaltung zu Beginn der Stunde).
Eines Tages bemerkt Herr X, dass Serda ein blaues Auge hat. „Na? Am Wochenende mal an den Falschen geraten?“, sagt er humorvoll (Konfrontation mit den Kosten der Schemamodus-Aktivierung). Serda antwortet (sichtlich nicht darüber erfreut): „Oh, Herr X, lassen Sie mich bloß in Ruhe!“ (Aktivierung des Modus Impulsiv-undiszipliniertes Kind) Daraufhin Herr X: „Siehst Du, so habe ich mich am Anfang des Schuljahres gefühlt, als Du und Volkan aufgedreht habt.“ (Versuch, den Modus des Gesunden Erwachsenden beim Schüler zu aktivieren) Serda meint daraufhin, dass ihm dass egal sei, und außerdem würde er am nächsten Tag „krasse Rache“ an demjenigen ausüben, der ihm das angetan hätte (Modus Aggressiver Beschützer).
Herr X bittet daraufhin Serda vor die Tür, die Klasse kümmert sich derweil um einen Gruppenarbeitsauftrag.
Unter vier Augen erklärt Herr X, dass er Serda für einen „netten Kerl“ halte, mit dem Unterricht oft Spaß machen würde (komplementäre Beziehungsgestaltung) – und dass manchmal so ein „Aggro-Serda“ hochkomme (Einführung in die Schemamodus-Arbeit). „Und dann ist es nicht mehr so lustig, da hast Du dann so Deine fünf Minuten.“ (Konfrontation mit den Kosten der Schemamodus-Aktivierung)
Die beiden reden über den „inneren Aggro-Serda“, über seine Rolle, die er am Schuljahresbeginn im Unterricht, aber auch am Wochenende spielt, wenn Serda mit seinem Freund in der Stadt unterwegs ist (Praxis der Schemamodus-Arbeit).
Sie verfassen ein Schemamodus-Memo, das speziell auf den nächsten Tag „gemünzt“ ist (siehe unten).
Dies stellt sich im Nachhinein als nicht effiziente Hilfe heraus. Serda prügelt sich wieder mit dem besagten Jungen (Rückfall – die Auslösung des Zerstörer-/Killer-Modus konnte nicht vom Modus des Gesunden Erwachsenen verhindert werden)
Schemapädagogische Analyse
Viele Lehrer halten Serda und Volkan für „schwierige“ Schüler. Die Heranwachsenden zeigen wenig Interesse am Unterricht und offenbaren eine geringe Frustrationstoleranz. Die Schemamodi-Aktivierungen, die beide offenbaren, sabotieren den Alltagsunterricht.
Auch Lehrer X wird ausgiebig „getestet“. Er hält sich aber mit seiner negativen Kritik, die insgeheim von Serda und Volkan provoziert wurde, zurück. Er tut demgegenüber genau das, womit beide nicht rechnen: Er interessiert sich für „ihre Themen“. Dies zahlt sich aus: Da er auf die dahinterliegenden Bedürfnisse nach Solidarität und Anerkennung/Akzeptierung eingeht, unterlassen sie in seinem Unterricht die üblichen Manipulationen (Psychospiele).
Nach der anfänglichen komplementären Beziehungsgestaltung erlaubt sich der Lehrer eine konfrontative Intervention, als er sieht, dass Serda ein „blaues Auge“ hat (leisten kann er sich das nun).
Unter vier Augen wird die Schemamodus-Arbeit praktiziert. Serda kann den „inneren Aggro-Serda“ kognitiv erfassen und seine Bedeutung in der einen oder anderen Alltagssituationen begreifen. Nun wird das „aktuelle Problem“ (Streit mit einem Gleichaltrigen) in ein Schemamodus-Memo eingearbeitet.
Das Memo reicht leider nicht aus, um die Aktivierung des „inneren Aggro-Serda“ einen Tag später zu verhindern.
In diesem Fall wäre eine Einführung in das Schemamodus-Modell zu Beginn des Schuljahres sinnvoller gewesen. Dann wäre eventuell der Modus des Gesunden Erwachsenen bis zum Tag X ausreichend gefördert worden. |
Die Erinnerungskarte von Serda
1. Benennen einer Situation, in der ich mich mit anderen boxe
„Wenn ich den Typ morgen sehe!“
2. Erkennen der aktivierten Teil-Persönlichkeit
„Wenn ich ihn sehe, kommt der Aggro-Serda in mir hoch, dann sehe ich nur noch rot und will Rache.“
3. Anerkennen des unangepassten Denkens und Realitätsprüfung
„Wenn ich den Kampf gewinne, kommt der Typ vielleicht mit Freunden wieder und verprügelt mich. Dann komme ich wieder mit mehr Freunden zurück. Aus eins gegen eins wird schnell hundert gegen hundert. Das bringt nix!“
4. Trennen vom alten und Festigung des neuen Verhaltens
„Wenn ich den Typ morgen sehe, drehe ich mich einfach um und gehe weiter.“ |
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