Einleitung – Typische Probleme im Schulalltag aus tiefenpsychologischer, neurowissenschaftlicher und schemapädagogischer Sicht
Die Anforderungen an Lehrer, Fachkräfte beziehungsweise Pädagogen von heute wachsen – quer über alle Schulformen hinweg. Dies ist zum einen eine „gefühlte Binsenweisheit“, die in vielen Lehrerzimmern und Fortbildungen immer mal wieder thematisiert wird; besonders ausgehend von denjenigen Pädagogen, die schon Jahre und Jahrzehnte im „Geschäft“ sind.
Auf der anderen Seite wird dieser „Trend“ auch im Rahmen wissenschaftlicher Forschung festgestellt, etwa wenn es um die Zunahme von Verhaltensstörungen, -auffälligkeiten von Schülern im Speziellen und Unterrichtsstörungen im Allgemeinen geht (WINKEL 2009; GROSSE SIESTRUP 2010; MENZEL & WIATER 2009).
Es gibt verschiedene Erklärungsansätze für diese Entwicklung:
(a) veränderte gesellschaftliche,
(b) familiäre und auch
(c) schulische Rahmenbedingungen werden in diesem Zusammenhang oft angeführt.
Entsprechend
(a) ist eine Auflösung orientierungsstiftender Milieus und Traditionen zu konstatieren (und die hat zweifelsohne Auswirkungen),
(b) Heranwachsende wachsen zunehmend in pluralisierten Familien- und Lebensformen auf,
(c) und schließlich „bringen“ die Heranwachsenden ihre familiären, gesellschaftlichen und vor allem auch medialen Prägungen „mit“ in die Schule, was wiederum Auswirkungen auf das schulische Zusammenleben hat.
Trägt man alldem Rechnung, so leuchtet schnell ein: Wir Pädagogen sind mehr denn je gefordert; besonders soziale, kommunikative und Stressmanagement-spezifische Kompetenzen tun Not. Wir müssen uns ja mit den „Schülern von heute“ auseinandersetzten, mit ihnen „Schritt halten“. Denn ansonsten können wir sie nicht – Sie wissen schon – dort „abholen, wo sie stehen“.
Schemapädagogik ist eine Antwort auf die Zunahme an Unterrichtsstörungen
Die hier vorgestellte Schemapädagogik möchte unter anderem die eben genannten Fähigkeiten seitens der Lehrer fördern. Unter anderem fokussiert sie die Art und Weise der Verständigung im Klassenraum. Gerade die Kommunikation zwischen Pädagoge und Heranwachsenden ist in Hinsicht auf Psychohygiene, Stress und Emotionen relevant. Und: Bekanntermaßen kann man nicht nicht kommunizieren, wie PAUL WATZLAWICK sagt.
Die Anzahl und Variationen an potenziellen Beziehungs- beziehungsweise Unterrichtsstörungen und zwischenmenschlichen Problemen im Unterricht sind sehr zahlreich. Als Lehrer im berufsbildenden Bereich habe ich die Erfahrung gemacht, dass sich einige Probleme „alle Jahre wieder“ wiederholen. Zahlreiche Rückmeldungen von Kolleginnen und Kollegen, die ich in Lehrerfortbildungsveranstaltung bekam, entsprechen meiner Wahrnehmung.
Tatsächlich verhält es sich so: Als Lehrkraft ist man den „typischen Konflikten“ schon fast zwangsläufig ausgeliefert, weil die Unstimmigkeiten in der Regel stets dort entstehen, wo Menschen miteinander zu tun haben.
Aus tiefenpsychologischer, neurowissenschaftlicher und schemapädagogischer Sicht werden die im Folgenden thematisierten Phänomene alleine schon durch die „Lebenswelt Schule“ auf den Plan gerufen werden.
Diese Voraussetzung und die damit unvermeidliche Konfrontation mit speziellen „typischen Nickligkeiten“ ist vielen Lehrkräften gar nicht bewusst. Und das ist auch kein Wunder, als diese Phänomene so gut wie gar nicht in Standardwerken zur Pädagogischen Psychologie auftauchen (siehe etwa WAGNER et al. 2009; SCHNOTZ 2009; HASSELHORN & GOLD 2009); ebenso wenig sind sie Bestandteil von Fortbildungen sowie dem Referendariat.
Lediglich einige (wenige) Veröffentlichung zur psychoanalytischen Pädagogik stellen diesbezüglich eine Ausnahme dar; sie thematisieren unbewusste Hintergründe von Unterrichtsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten von Schülern (KREUZER 2006; HIRBLINGER 2001). Dies ist sehr schade, und dieses Buch soll daher insbesondere durch die Vermittlung psychologisch-pädagogischer Kompetenzen dabei helfen, Unterrichtsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten seitens der Schülerschaft zu minimieren.
„Nervige“ Auffälligkeiten und Störungen im Unterricht auf dem Prüfstand
Im Folgenden soll es um einige problematische Phänomene auf Schüler- und Lehrerseite gehen. Sie werden aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven beleuchtet.
Es soll gezeigt werden, dass die Heranwachsenden aufgrund von bestimmten angeborenen Dispositionen, biografischen Erfahrungen und deren „neuronalen Niederschlägen“ im Gehirn den einen oder anderen Lehrer mit verschiedenen Verhaltensauffälligkeiten „nerven“.
Wenn uns klar wird, welche innerpsychischen Prozesse jeweils „im Hintergrund“ ablaufen, so sind wir zukünftig imstande, den Anderen tiefgreifender zu verstehen und angemessen(er) zu reagieren.„Ich hab gar nix gemacht!“ – mangelhafte Selbsteinsicht in störendes Verhalten
Interessant, verwunderlich bis hin zu „unfassbar“ können vorauseilende Selbstrechtfertigungstendenzen von Schülern wirken. Sie werden als häufig auftretende Phänomene im Alltagsunterricht betrachtet (LOHMANN 2007).
Wie charakterisiert sich diese Art der Unterrichtsstörung? Prinzipiell offenbart sich das Phänomen als eine Art Selbst-Unkenntnis. Auf den Punkt gebracht: Selbst bei offensichtlichen Regelverstößen (Schwätzen, Papierflieger durch den Raum werfen, Mitschüler stören usw.) wehren manche Schüler stets intuitiv und immer wieder aufs Neue ab, sobald sie von der Lehrkraft ermahnt werden, etwa: „Was, ich schon wieder!? Ich hab doch gar nichts gemacht!“ Leicht wird die Lehrkraft mit diesem Verhalten in eine „bestimmte Ecke“ gedrängt beziehungsweise unterschwellig gestresst (NOLTING 2002).
Doch es gilt im Falle des vorauseilenden Schuld-von-sich-Weisens zu unterscheiden. Einmal (a) ist der Betreffende tatsächlich davon überzeugt, „nichts gemacht“ zu haben; andererseits (b) bedient er – teils bewusst, teils unbewusst – bestimmte Manipulationsstrategien.
Sie haben das Ziel, ein bestimmtes Bedürfnis zu befriedigen, etwa das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, nach „Rache“ oder Wahrgenommen-Werden. Im Rahmen des psychotherapeutischen Verfahrens Transaktionsanalyse werden solche Interaktionsmuster auch Psychospiele genannt (auf diese besondere Art der Kommunikation wird unten eingegangen).
Für die Lehrkraft ist es manchmal schwierig zu erkennen, ob eine (bewusste oder unbewusste) Absicht hinter der automatischen Verantwortungsleugnung steht oder nicht. Hierzu bedarf es eines gewissen Fingerspitzengefühls.
Folgende Faustformel kann aufgestellt werden: Je öfter es seitens eines Schülers zu Unterrichtsstörungen inklusive massiver Abwehrreaktionen kommt, desto eher handelt es sich wahrscheinlich um ein Psychospiel. In solchen Fällen bieten sich verschiedene Interventionsstrategien an, um das „Spiel“ und somit die Unterrichtsstörung zu stoppen.
Tiefenpsychologogische, neurowissenschaftliche und schemapädagogische Reflexionen
Welche Psychodynamik, das heißt, welches psychische Kräftespiel, läuft bei diesem Phänomen im Hintergrund ab? Im folgenden soll hierüber tiefenpsychologisch, neurowissenschaftlich und schemapädagogisch reflektiert werden. Die Anregungen zum Umgang mit diesem und den folgenden Phänomenen finden sich in den Kapiteln 2, 4 und 5.
Nun zu den Reflexionen:? Aus tiefenpsychologischer Perspektive (etwa KÖNIG 2003) zählt die Leugnung von unangenehmen oder peinlichen Vorstellungen zur „ganz normalen“ Arbeitsweise der Psyche des Alltagsmenschen. Das Leugnen ist entsprechend ein sogenannter Abwehrmechanismus, der (je nach Situation mit hohem affektiven Anteil) das Selbstwertgefühl aufrechterhalten soll. Das Ganze kann abstruse Formen annehmen. Ist so ein Abwehrmechanismus aktiviert, wird, lapidar gesagt, der „gesunde Menschenverstand“ gleichzeitig stark beeinträchtigt, sozusagen die Objektivität. Der betreffende Schüler ist dann unter Umständen auf der kognitiven (gedanklichen) Ebene gar nicht mehr zu erreichen.
Das Phänomen wird auch aus neurowissenschaftlicher Sicht beleuchtet (SPITZER 2009). Viele Verhaltensweisen laufen im Alltag automatisch, weil ohne Beteiligung des sogenannten Neocortex (Großhirnrinde) ab; er ist unter anderem für bewusste Planungs- und Handlungsumsetzungsprozesse zuständig. Das vorauseilende Leugnen kann entsprechend einen biografischen Hintergrund haben. Tauchte das Phänomen oft auf, hat es aller Wahrscheinlichkeit nach „Fußabdrücke“ im Gehirn hinterlassen. Werden bestimmte Hirnzellenverbände in der Kindheit oft aktiviert, werden sie zu festen Mustern.
Aus schemapädagogischer Perspektive (DAMM 2010a; 2010b) stellt das vorauseilende Leugnen eine automatisierte Reaktion dar – sie läuft vor dem Hintergrund eines aktiviertes Schemas (innerpsychisches Muster) ab. Der betreffende Schüler agiert reflexartig auf Interventionen seitens der Lehrkraft. Tatsächlich wird das Phänomen er durch das Einschreiten ausgelöst.
Fazit
Das Phänomen „Gegen Regeln verstoßen und automatisch und vehement die Verantwortung dafür leugnen“ taucht immer mal wieder im Unterrichtsalltag auf. Zahlreiche Schüler „bringen“ das Thema nichtwissend sogar von zu Hause mit.
Erfahrungsgemäß ist es aus Lehrersicht sinnvoll, flexibel und nicht statisch auf diese Auffälligkeit zu reagieren, das heißt, mal humorvoll, mal vehement, mal nonverbal. Außerdem ist bei einem hohen Auftreten zu prüfen, ob der betreffende Schüler eine bestimmte Absicht mit seinem Verhalten verfolgt; in manchen Fällen geht es entsprechend um Aufmerksamkeit oder einen Machtkampf (siehe nächsten Punkt sowie Kapitel 5.4).
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