Der Begriff Borderline ist ähnlich negativ gelabelt wie auch dieser: Narzissmus. Wer mit diesen Fremdeinschätzungen, ob von professioneller oder laienhafter Seite gestellt, durch die Welt geht, löst bei den Mitmenschen einige Vorurteile aus.

Das starke Bedürfnis nach Stimuli

Seit Anfang der 1980er-Jahre gibt es die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung. Die meisten Menschen denken nach meiner Erfahrung als erstes ans Ritzen, wenn sie den Begriff Borderline hören. Aber: jeder Fall ist anders, zeigt einen ganz individuellen Mix an Phänomenen, genauer gesagt: Strategien, sich zu spüren, zu “kicken”. Ganz allgemein festgestellt, es gibt Strategien im harmlosen, mittleren und bedenklichen Bereich. Harmlos ist etwa der Konsum von scharfen Gerichten, Horrorfilmen oder -serien, sowie auch die Praxis von Sportarten, bei denen man sich auspowern kann. Riskant hingegen ist ein hoher Alkohol- und Nikotinkonsum sowie jegliche Form von nachhaltiger Selbstverletzung (auch psychosozialer Art – man denke an eine toxische Partnerwahl). Manche “Bordis” haben auch eine extrem kurze Zündschnur und sich emotional entsprechend schlecht im Griff.

Beziehungsaufbau – manchmal ein Drahtseilakt

In meiner Schulbiografie habe ich etwa 20 Schüler*innen kennengelernt, bei denen die Diagnose ärztlicherseits gestellt wurde. Mittelstarke Borderline-Tendenzen offenbarten rückblickend etwa 100 Schüler*innen im Alter zwischen 17 bis 25 Jahren in meinem Dunstkreis als Klassen- oder Fachlehrer. Interessanterweise haben sich die Betreffenden der erstgenannten Gruppe schnell mir gegenüber unter vier Augen (bin Verbindungslehrer seit Jahren) bzw. auch mal vor der ganzen Klasse geoutet. Aus den Erfahrungen habe ich 2019 ein Buch gemacht, welches das Thema fachwissenschaftlich und praxisnah für Lehrkräfte zugänglich machen sollte. Es war und ist das erste Buch in dieser Form auf dem Markt – und es floppte, was ich sehr schade finde. Der Input sollte jeder Lehrkraft an einer weiterführenden Schule bekannt sein.

Nach meiner Erfahrung stehen Schüler*innen mit den entsprechenden Tendenzen manchen Lehrkräften sehr bindungsmotiviert gegenüber. “Funkt” es beiderseits etwas auf der Beziehungsebene positiv, dann ergeben sich automatisch gute Voraussetzungen für eine gute Zusammenarbeit. Bestimmte Lehrertypen aber, vor allem gewissenhafte und schizoid-veranlagte, triggern viele Schüler*innen mit Borderline-Facetten negativ. Nicht selten startet dann unvermeidlicherweise die Eskalationsspirale.

Welche Methoden sinnvoll sein können

Als Klassenlehrkraft habe ich mir mehr Zeit für die betreffende Klientel in meiner Gruppe nehmen können, als Fachlehrkraft hat man da weniger methodische Möglichkeiten. Ich docke zunächst bewusst an Äußerlichkeiten an (Tattoo, Piercing, Frisur, Symbole auf dem Ordner usw.) und praktiziere die Methode Expertenrolle (“Seit wann haste das und das?”; Was bedeutet dieses und jenes!” usw.). Die Innere Teile-Arbeit kann ebenfalls sinnvoll sein, hierzu nutze ich einzelne Schemamodus-Karten, die verschiedene Ich-Zustände zeigen, die dann reflektiert werden (“Wann wird welcher Zustand im Unterricht getriggert?”). Die Ressourcen der oder des Betreffenen fördere ich zudem bestmöglich im Unterricht, meistens liegen Kompetenzen im literarischen, musikalischen, kreativ-künstlerischen Bereich vor. Man muss nur aufpassen, das die betreffende Person im Alltagsgeschehen nicht zu viel Raum einnimmt.

Fazit

Es gibt kein Patentrezept zum Umgang mit Schüler*innen mit Borderline-Facetten. Wichtig ist es, eine möglichst ausgewogene Nähe-Distanz-Arbeitsbeziehung herzustellen. Wir sind immer noch im Praxisfeld Schule und z.B. nicht in der stationären Jugendhife, wo erfahrungsgemäß methodisch mehr geht.

Veröffentlichungen

Empathen, Einzelgänger, Schauspieler und Perfektionisten im Klassenraum: Ein schemapädagogischer Praxisratgeber für Lehrkräfte

Guter Unterricht braucht Beziehungen:

Schemapädagogik – ein Ansatz zum Umgang mit verhaltensauffälligen Schülern

“Ich beende den Unterricht, nicht die Klingel!”: 12 Lehrertypen – und wie man sich und anderen Lehrkräften auf die Schliche kommt

„Gar nichts muss ich!“: Mit narzisstischen Schülern kompetent umgehen 

Achterbahnfahrten im Klassenraum: Konstruktive Zugänge finden zu Schülerinnen und Schülern mit Borderline-Persönlichkeit

Beziehungsgestaltung und Ressourcenförderung im Jugendheim Lory: Ratgeber Schemapädagogik in der stationären Jugendhilfe